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•٠•●♥Authentizität



In dieser Reflektion geht es um den Zusammenhang zwischen Authentizität, Gewohnheit und innerem Raum. Die meisten Menschen verbinden mit Authentizität, Begriffe wie Echtheit, wahrhaftig sein, sich zeigen, Ehrlichkeit, Kongruenz also Übereinstimmung mit dem Inneren, stimmig sein auch Übereinstimmung mit dem Augenblick mit der augenblicklichen Wahrheit.

Es geht also im weitesten bei Authentizität um innere Wahrheit. Ich möchte daher den Begriff der Wahrheit einmal näher beleuchten. Nehmen wir ein Beispiel:

Da ist jemand, der ist wütend. Er ist vielleicht sogar so wütend, dass er schimpft oder sogar zuschlägt. Er ist also wütend und schlägt zu. Ist dieser Mensch wahrhaftig? Ist er authentisch? In gewissem Sinne schon, er ist zumindest wahrhaftiger als derjenige, der seine Wut vollkommen verleugnet und unterdrückt, der sie sich nicht einmal eingesteht.

Trotzdem ist diese Form von Authentizität natürlich noch eine sehr unbewusste, grobe Form. Authentisch sein auf dieser Ebene bedeutet: ich bin wütend und habe den Impuls zuzuschlagen, also schlag ich zu. Das ist meine augenblickliche Wahrheit.

Nun könnte aber auch jemand bei fortschreitender Bewusstheit wahrnehmen, dass er wütend ist. Da ist Wut und ich kann sie bemerken. Ich bin größer oder auch mehr als meine Wut. Ich kann mich auf diese Wut beziehen. Ich kann sie z.B. unterdrücken, oder ich kann sie ausagieren. Ich kann mit ihr reden, ich kann sie ganz zulassen in mir und sie einfach in mir halten. Ich bin nicht die Wut, sondern ich beziehe mich auf sie. Ich kann ihr einen Raum geben in mir.

In der Erkenntnis, nicht die Wut zu sein, sondern die Wut zu haben, entsteht Raum und Ausdehnung. Immer wenn sich Bewusstheit erweitert, entsteht Ausdehnung.

Es gibt also verschiedene Ebenen von Authentizität oder Wahrheit, die abhängig von der Bewusstheit in diesem Augenblick sind. Untersuchen wir unser Beispiel weiter: Wenn ich die Wut bemerke und sie ganz in meiner Wahrnehmung halte, sie nicht unterdrücke, nicht ausagiere, wenn ich ganz mit ihr bin, wird mir vielleicht bewusst, dass hinter dieser Wut plötzlich eine Traurigkeit auftaucht, dass am Boden dieser Wut ein Mangel sitzt, etwas, das mir fehlt, oder auch eine Hilflosigkeit. Mir wird vielleicht bewusst, dass mir etwas schon ganz lange oder schon immer fehlt. In dem Moment in dem mir das klar wird findet eine Ausdehnung statt und die Wut löst sich auf in nichts oder besser gesagt, sie löst sich auf in die Traurigkeit. Die ganze Energie der Wut bricht in sich zusammen. Da muss nichts mehr ausagiert oder abreagiert werden.

Authentisch sein auf dieser Ebene bedeutet, die Traurigkeit zuzulassen. Wenn wir sie ganz zulassen, merken wir auch hier, dass wir nicht Traurigkeit sind, sondern dass wir den Mangel in uns bemerken und ihm Platz geben, dass wir größer sind als dieser Mangel.

In dieser Erkenntnis kann eine Ausdehnung stattfinden, wir rutschen in einen inneren Raum und plötzlich sind wir vollständig präsent. In dieser Präsenz kann es sein, dass wir auf einmal eine Fülle in uns fühlen, ohne dass der Mangel durch irgendwas gestillt worden ist. Mit der Ausdehnung unseres Bewusstseins vertieft sich unsere Wahrheit bis in unsere essentielle Natur hinein. Je mehr sich diese Erfahrung vertieft, desto mehr verschwindet das Ich-Gefühl und es bleibt eine Seins-Erfahrung. Da ist vielleicht Präsenz oder Intensität oder Freude oder Klarheit.

Interessant ist zu vergleichen, was eigentlich den Unterschied ausmacht zwischen der Wahrheit unserer Persönlichkeit und der unseres wahren Seins.

Im Beispiel der Wut sehen wir, daß Authentizität auf der Ebene der Persönlichkeit den Versuch bedeutet die Wirklichkeit zu ändern; ich will die augenblickliche Wirklichkeit anders haben, z.B. will ich die Umwelt oder den Gegenüber ändern. Wenn ich die Wut halte und der Mangel auftaucht, möchte ich die Erfahrung in mir ändern; denn ich denke, nur im Stillen des Mangels kann Erfüllung geschehen. Die Wahrheit der Persönlichkeit ist also immer eine subtile Abwehr gegen das, was ist.

Die Wahrheit unseres Seins kommt jedoch aus einem vollkommenen Zustimmen dessen, was ist.

Was ist der entscheidende Faktor, durch den sich unsere Wahrheit immer mehr vertieft und sich von den groben Aspekten unserer Persönlichkeit löst. Müssen wir etwas tun, um vollkommen authentisch zu werden und unsere wahre Natur zu berühren? Das Gegenteil ist der Fall. Sein und damit auch die Verfeinerung unserer Wahrheit entfaltet sich von Innen, wenn wir nicht tun.

Wenn ich von Nicht-Tun spreche, meine ich nicht nichts tun. Nicht-Tun ist vielmehr aufmerksam sein, die Dinge bemerken. Weder unterdrücken, noch ausagieren, sondern innehalten und ganz damit oder darin sein. Nicht-Tun ist das Gegenteil von unserer Gewohnheit. Es ist das Gegenteil davon unseren gewohnheitsmäßigen Impulsen nachzugeben. Das bedeutet, unsere gewohnheitsmäßigen Sichtweisen zu bemerken und in Frage zu stellen, offen zu bleiben und weiter zu forschen. Nicht-Tun schafft den Raum für Achtsamkeit.

Nicht-Tun meint also den schmalen Grat zwischen unterdrücken und ausagieren. Dann kann es geschehen, dass die Vertiefung von Wahrheit von alleine geschieht, dass eine Einsicht auftaucht, z.B. dass in der Wut eine Traurigkeit und ein Mangel wirkt. Es findet eine Ausdehnung statt in den Mangel hinein. Können wir in dem Mangel vollständig sein, ihn nicht stillen und nicht bewerten, ihn nicht unterdrücken und uns nicht ablenken? Dann kann es geschehen, dass sich unsere Wahrnehmung wieder vertieft und Präsenz auftaucht. Können wir präsent sein ohne stolz zu werden oder es zu verstehen? Ohne es festzuhalten sich ausbreiten lassen, lauschen?

Wenn wir Authentizität auf diese Weise betrachten, gibt es keine richtige oder falsche Erfahrung – es gibt immer nur die Erfahrung des Jetzt. Wahrheit beginnt immer in diesem Moment. Selbstgrenzen, Identifizierungen lösen sich auf. Entfaltung geschieht von Innen, unsere Wahrheit vertieft sich.
Ich möchte an dieser Stelle ein Zitat von A.H. Almaas einfügen, aus dem Buch: "Essentielle Befreiung". Es lautet: "Ihr könnt euch selbst nicht wachsen machen, ihr könnt nur aufhören einzugreifen. Ihr könnt euch selbst nicht glücklich machen, ihr könnt nur mit dem Urteilen aufhören. Wachstum und Ausdehnung sind natürlich. Sie sind die Lebenskraft selbst und man kann ihre Richtung nicht vorhersagen."

Unsere Gewohnheiten sind es, die unsere Authentizität einschränken. Es gibt zwei grundsätzliche Gruppen von Gewohnheiten, erstens die Gewohnheiten, die sehr hilfreich sind und uns sogar in unserem authentisch sein fördern, wie Verkehrsregeln einhalten oder die Gewohnheit des Sprechens, was ein vollständig automatisierter Vorgang ist. Wir brauchen nicht bei jedem Buchstaben und Wort zu überlegen, wie wir den Mund zu bewegen haben.

Unser ganzes Leben ist von unzähligen Gewohnheiten und Automatismen durchsetzt, die uns helfen unseren Alltag zu regeln, zu strukturieren. Die uns helfen im Leben zu bestehen und auf eine gute Weise für uns zu sorgen.

Die zweite Gruppe von Gewohnheiten sind unsere Reaktionsmuster. Wenn ich mich z.B. einsam fühle kann es meine Gewohnheit sein, sofort zum Kühlschrank zu gehen und zu essen, um die unangenehme Einsamkeit nicht zu fühlen.

Die Reaktionsmuster haben alle gemeinsam, dass sie auf Vermeidung ausgerichtet sind. Sie können so schnell, unbewusst und automatisch ablaufen, dass wir das eigentliche Gefühl oder den eigentlichen Impuls darin gar nicht bemerken. Ich bemerke vielleicht gar nicht mehr die Einsamkeit, sondern bin so schnell am Kühlschrank, dass ich nur noch den Heisshunger spüre.

Je unbewusster und automatischer ein Reaktionsmuster ist, desto weniger Raum entsteht zum Spüren.

Jedes Reaktionsmuster beinhaltet auch eine Überzeugung, ein Konzept. Z.B. kann es sein, dass wenn ich Einsamkeit vermeide, mit Einsamkeit etwas noch viel Schlimmeres für mich verbunden ist, nämlich die Vorstellung: Einsamkeit ist mein Tod. Ich würde zugrunde gehen, wenn ich die Einsamkeit zulassen würde.

Anhand solcher Überzeugungen wird deutlich, wie schwer es ist mit Reaktionsmustern aufzuhören, weil es ja nicht nur die Einsamkeit ist, die wir glauben aushalten zu müssen, sondern wir fühlen uns existentiell bedroht.

Die Überzeugungen, die mit den Reaktionsmustern verknüpft sind, sind in der Regel unbewusst. Sie bedeuten immer eine Einengung von uns. Jedes Selbstbild ist eine Begrenzung. Die Wirkung ist damit, dass unser Raum eingeschränkt wird. Wir haben keinen inneren Raum mehr zum Spüren und zum Wahrnehmen.

Umgekehrt ist es so, dass wenn wir nicht tun üben, also mit dem Reaktionsmuster innehalten und das Konzept wahrnehmen, das damit einhergeht, eine Ausdehnung stattfindet. Mit der Einsicht, mit dem Aha-Erlebnis kann eine Ausdehnung unseres Bewusstseins stattfinden und mehr innerer Raum entsteht.

Jedesmal, wenn wir uns eines Konzeptes, eines Selbstbildes bewusst werden und damit unsere Wahrnehmung erweitern, entsteht mehr innerer Raum.

Tatsächlich ist es so, dass innerer Raum zum einen Voraussetzung ist für Wahrnehmung und Bewusstwerdung. Andererseits entsteht er, wenn wir bewusst werden, d.h. er ist auch Ergebnis innerer Arbeit. Daher ist für inneren und äußeren Raum zu sorgen eine der wichtigsten Aufgaben in der Spiritualität.

Wir leben in einer Kultur in der uns alles erdenkliche angeboten wird, um inneren Raum zu füllen. Es gibt jede Menge Raumfresser bei uns, z.B. Fernsehen oder Internet oder Konsum. Eigentlich ist unsere ganze Kultur darauf aufgebaut. Aus einer spirituellen Sicht bedeutet aber viel Ablenkung, wenig inneren Raum zu haben.

Wir können natürlich viel tun oder besser lassen, um inneren Raum zu fördern. Z. B. können wir ein möglichst schlichtes, einfaches, anspruchsloses Leben führen. Ein schlichtes Leben zu führen ist keine Frage von Moral. Es ist einfach nur hilfreich um Raum zu haben.

Auch sehr unterstützend für Raum ist, dass wir unser Leben in Ordnung halten, dass wir unsere Dinge erledigen und aufräumen, sonst fressen sie unseren inneren Raum. Wir wären dann ständig mit Unerledigtem beschäftigt.

Wertvoll für inneren Raum ist es auch, Pausen einzulegen, z.B. morgens und abends eine Meditation und während des Tages innehalten, um zu spüren.

Es könnte zu unserer inneren, spirituellen Disziplin werden, unsere Impulse zu beobachten und uns zu fragen: "Ist dieser Impuls eine Vermeidung oder ist er wirklich ein stimmiger Ausdruck für das, was in mir ist?" Z.B. kann Hunger ein Ausdruck eines körperlichen Bedürfnisses sein oder ein Ausdruck dafür sein, dass wir gerade etwas nicht spüren wollen, wie Einsamkeit.

Wenn es uns gelingt Reaktionsmuster zu erkennen und innezuhalten, d.h. immer weniger zu vermeiden in unserem Leben, werden wir feststellen, dass wir immer mehr Energie zur Verfügung haben. Wenn wir den Reaktionsmustern nämlich nachgeben, wird all unsere Energie aufgebraucht. Lernen wir jedoch innezuhalten und immer öfter den Reaktionsmustern zu widerstehen, selbst, wenn es sich im ersten Moment unangenehm anfühlt, bleibt uns die Energie, die normalerweise durch die Gewohnheit aufgefressen wird, erhalten und wächst in uns an. Dies führt natürlich dazu, dass uns mit der Zeit immer mehr Energie zur Verfügung steht, die Gewohnheiten anzuhalten.

Raum entsteht also immer, wenn sich Selbstgrenzen auflösen. Es ist immer ein Zeichen des Übergangs zu tieferer Authentizität.

Die tiefste Überzeugung, die in uns wirkt, ist die Überzeugung, dass wir ein abgegrenztes "Ich" sind, ein abgegrenztes Individuum, getrennt von allen anderen. Eng damit gekoppelt ist, dass wir das Gefühl haben unser Körper zu sein. Das Ich-Gefühl ist an das Gefühl des Körpers gebunden und damit scheint das Ich genauso groß zu sein wie unser Körper. Es gibt mich in meinem Körper und die Welt da draußen.

Wenn wir diese tiefste Überzeugung, diese Identifizierung mit dem Ich entlarven, entsteht eine grenzenlose Ausdehnung von Raum. Wenn es kein Ich mehr gibt, bin ich alles. Dieses Raumgefühl, das zu tun hat mit der Auflösung des Ich-Konzeptes nennt man im Buddhismus Leere oder Erleuchtung.

Das Ich-Konzept ist die Basis aller anderen Überzeugungen, die in uns wirken und unseren Raum eingrenzen. Um Bewusstsein in unsere Reaktionsmuster zu bringen, ist es hilfreich mit der Frage zu arbeiten: "Wie vermeide ich inneren Raum?" Dabei geht es nicht darum uns zu verurteilen, sondern freundlich zu sein mit uns und immer bewusster zu werden darüber, welches unsere Reaktionsmuster sind.

Zum Schluss ein Gedicht von Portia Nelson, das die allmähliche Bewusstwerdung von Reaktionsmustern beschreibt:

Autobiographie in fünf Teilen

Erstens

Ich gehe die Strasse entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein. Ich bin verloren, bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld. Es dauert endlos wieder herauszukommen.

Zweitens

Ich gehe dieselbe Strasse entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so, als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben schon wieder am gleichen Ort zu sein, aber
es ist nicht meine Schuld. Immernoch dauert es sehr lange herauszukommen.

Drittens

Ich gehe dieselbe Strasse entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es. Ich falle immernoch hinein – aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen. Ich weiß wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld. Ich komme sofort heraus.

Viertens

Ich gehe dieselbe Strasse entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.

Fünftens

Ich gehe eine andere Strasse...